Nullkommadrei Kapitel

Nullkommadrei Kapitel

Kategorie: Leichter leben, leichter schreiben

Über die Nöte des Ghostwriters beim Vereinbaren von Zwischenzielen

Auf meiner ständigen Gratwanderung zwischen bodenständigem Business und luftig tänzelnder Kreativarbeit begegnen mir manchmal schon sehr knifflige Fragen. Diesmal: Es ist ziemlich klar, wann ich ein Kapitel fertig geschrieben habe – aber wie viel sind nullkommadrei Kapitel?

Die Frage ergab sich aus einer einfachen Rechnung. Mein Kunde wollte Struktur (und einmal ehrlich, ein bisschen Struktur schadet keiner Kreativen, da bin ich aufgeschlossen, man möchte Projekte schließlich auch zu Ende bringen), und er dachte an Zwischenziele. Wir stellten eine kleine Rechnung auf: Wenn wir in elf Monaten vierzehn Kapitel fertig haben wollen, brauchen wir pro Monat einskommadrei. „Super“, sagte der Kunde, „das heißt, du lieferst mir an jedem Monatsende einskommadrei Kapitel.“

Einskommadrei? Ich überlege. Wann ist ein Kapitel zu 30 Prozent fertig? Woran erkenne ich das? Vor allem: Woran erkennt das der Kunde?

1. Als einzig vernünftig Zählbares beim Schreiben fällt mir die Zeichenzahl ein. Also gut: 30 Prozent der Zeichen des Kapitels. Haha! Da haben wir schon den Haken. Wie viele Zeichen wird das Kapitel denn haben, wenn es fertig ist? Das wissen wir erst, ja genau: Wenn es fertig ist.

Außerdem sagt die Zeichenzahl genau gar nichts über den Inhalt. Man könnte also 400 Wörter irgendwie aneinander reihen, die man höchstwahrscheinlich brauchen wird können, und sagen: Das sind jetzt nullkommadrei Kapitel. Das klingt schräg.

2. Man könnte natürlich sagen: ein Kapitel = drei Keymessages, nullkommadrei wäre dann knapp eine. Okay, so könnte man das machen. Allerdings kann es sein, dass sich zwei von den drei Keymessages ordentlich wehrt gegen die Verschriftlichung – als Autorin kennt man das ja –, sodass man für die eine Keymessage 90 Prozent der Zeit braucht. Die Idee hat also einen Haken.

3. Womit wir bei einer nächsten Messgröße wären: der Zeit. Man könnte auch sagen, nullkommadrei Kapitel sind es dann, wenn 30 Prozent der dafür vorgesehenen Schreibzeit abgelaufen ist. Das ist natürlich Nonsens. Keiner weiß genau, wie viel Zeit man für ein Kapitel brauchen wird. Und eine statistische Zahl (etwa auf Basis von Erfahrungswerten) hilft nicht. Es gibt Kapitel, die fließen aus den Fingern, andere gehen nur stockend voran – was weiß man schon im Vorhinein, womit man es zu tun hat? Nach fünf Stunden kann das halbe Kapitel fertig sein oder auch erst die Einleitung.

Die Nullkommadrei anhand der Zeit zu messen, ist auch deswegen schwierig, weil Schreiben ja nicht erst dann beginnt, wenn man in die Tasten klopft. Vor dem Schreiben ist immer viel Denken angesagt, finde ich. Wenn ich ein Kapitel zu schreiben beginne, muss ich viel überlegen: wie ich es angehe, was genau ich zu sagen habe und was nicht ins Kapitel gehört. Ich strukturiere meine Ideen, lese da und dort noch nach, um genügend Klarheit zu haben, recherchiere im Internet. Dann skizziere ich den Text. Heißt so viel wie: Da stehen kryptische Aussagen im Dokument oder die ersten Versuche, Unterkapitel zu bilden und Überschriften zu formulieren, das eine oder andere Textfragment, der Versuch eines Anfangs, ein paar Killeraussagen, die mich bei der Recherche umgehauen haben. Und ansonsten ein paar halbfertig gedachte Details und unausgegorene Ideen.

An dieser Stelle habe ich für mein Gefühl zeitmäßig nullkommadrei bereits erreicht. Vermutlich sogar schon nullkommafünf. Aber ehrlich: So etwas soll ich dem Kunden zumuten? Nie im Leben mache ich sowas! Denn was dann passiert, kann nur in die Hose gehen:

  • Der Kunde liest das und fällt vor Schreck vom Sessel. Er ist auf der Stelle davon überzeugt, die falsche Ghostwriterin gewählt zu haben. Die kann ja gar nicht schreiben, denkt er sich, das hätte ich selber auch gekonnt. Er weiß zwar, dass es sich um einen unfertigen Text handelt, aber irgendwie hat er sich das anders vorgestellt. So ein chaotischer Text!
  • Na gut, denkt er sich als Nächstes, schauen wir, was zu retten ist. Und dann müht er sich ab, um ein Feedback zustande zu kriegen. Er bereitet Feedback vor für Absätze und Inhalte, die es ohnehin nie in die Endversion geschafft hätten, hätte die Ghostwriterin das Kapitel fertig schreiben können. Alles verlorene Liebesmüh also.
  • Mühsam kommuniziert er Lob und Kritik. Höchstwahrscheinlich viel mehr Kritik als Lob, und das muss die Ghostwriterin irgendwie aushalten können. Bei jeder Kritik möchte sie anbringen, dass das doch alles noch gar nicht fertig ist. Und nein, sie ist nicht schlampig gewesen, sie hat das Transkript sehr wohl nochmal gelesen, diese kryptische Notiz hat der Kunde nur falsch interpretiert. Und ja, natürlich fehlt es noch an Klarheit, was denn sonst? Und dass da ein Satz im Sie-Stil und einer im „man“-Stil steht, liegt daran, dass ein nullkommadrei-fertiges Kapitel nun einmal nicht überarbeitet und schon gar nicht korrekturgelesen ist.

Das bringt alles nichts. Der Kunde ist frustriert, weil er in dem unfertigen Kapitel keinen wirklichen Fortschritt erkennen kann. Die Ghostwriterin ist frustriert, weil sie sich missverstanden fühlt und außerdem Kritik einstecken muss für etwas, von dem sie selbst weiß, dass es noch nicht gut ist. Die Künste eines Kochs beurteilt man schließlich auch erst beim Verkosten des fertigen Gerichts und nicht schon, wenn er grade einmal die Zwiebel angeröstet hat.

 

Foto (c) Daniela Pucher

7 Comments

    • 🙂 Allerdings!

    • Mich erinnert das sehr an ein Projekt im letzten Jahr. Hier haben wir 10 Kapitel schön säuberlich zeitlich gleichmäßig aufgeteilt. Natürlich waren die Kapitel dann völlig unterschiedlich lang, manches wurde noch ausgiebig umgestellt, und natürlich haben wir den Zeitplan nicht exakt eingehalten,
      aber es hat doch geholfen, das Projekt zu strukturieren. Beruhigend finde ich, dass die Schritte dazwischen auch bei anderen recht unstrukturiert sind :).

    • Oh, das beruhigt mich jetzt auch, dass es dir ähnlich ging! 🙂

      Solange man 1,3 Kapitel pro Monat als statistische Zahl betrachtet, die nur als ungefähre Orientierung betrachtet wird, ist auch alles okay, finde ich. Problematisch ist es nur, wenn man unfertige Kapitel zwecks „Beweis“ des Projektfortschritts an den Kunden abliefern soll – das finde ich äußerst schwierig!

    • Ergänzung: Ich finde diese Orientierung nicht nur okay, sondern auch unbedingt notwendig! Man muss sich halt immer vor Augen halten, dass man es hier mit Kreativarbeit zu tun hat, die sich nicht einfach in ein Management-Tool hineinpressen lässt.

  1. Hallo Daniela,
    ich schreibe gerade an meiner Bachelorarbeit und verstehe den Wunsch nach Struktur und Zeitplan nur zu gut! Kapitelweise komme ich nicht so gut voran, also habe ich mir mein Inhaltsverzeichnis angelegt und fülle dann immer wieder die einzelnen Kapitel und Unterkapitel mit spontanen Eingebungen und Zitaten voll. Von meinen Hausarbeiten weiß ich, dass ich am Ende eher den Text kürzen und noch die Übergänge gestalten muss. An manchen Tagen schreibe ich fast nichts, sondern sortierte, formatiere und lese meine eigenen Textfragmente. Sehr hilfreich ist mein iPhone für Textpassage, die mir beim Spazierengehen einfallen … und irgendwann mag ich mich dann nicht mehr mit dem Thema befassen und schließe die Arbeit ab!
    Grüße nach Wien

    • Hallo Martina,
      auch das Sammeln ist Teil des Schreibens und damit „Vorankommens“. Super, dass du herausgefunden hast, wie du am besten arbeiten kannst. Das ist ja immer auch Typsache!
      Liebe Grüße retour!

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