Substantivierung, das nicht auszumerzende Phänomen. Aber auch ganz praktisch: Wenigstens werden wir Schreibcoaches nie arbeitslos
Da setzt man sich hin, um am Sachbuch zu arbeiten, und dann will man natürlich in erster Linie eines: etwas Kluges schreiben. Überhaupt, als intelligenter und eloquenter Mensch rüberkommen. Und dann zieht man alle Register, die man einmal in Punkto Schreiben gelernt hat. Das ist auch super. Aber nicht in jeder Hinsicht. Im Bemühen um Eloquenz wird der Text dann nämlich oft abstrakt, aufgeblasen, kompliziert. G’spreizt, um es auf Wienerisch zu sagen.
Die Gespreiztheit ist meistens einem Phänomen geschuldet: Substantivierungen haben offenbar immer Saison. Wie gut für uns Schreibcoaches, geht uns wenigstens nie die Arbeit aus 😉 Da wird gnadenlos jedem zweiten Verb ein „ung“ oder ein „keit“ angehängt. Der Amtsschimmel beginnt zu wiehern: Es werden Mitteilungen vorgebracht anstatt einfach nur mitgeteilt, und eine Erhebung durchgeführt anstatt nur erhoben.
Alles nur aus einem Grund: damit es „besser klingt“.
Und was machen Sie als Leserin, wenn Sie in den Genuss solcher gespreizten Texte kommen? Genau: nicht lesen. Oder zumindest nur unter Androhung von Gewalt.
Nicht gelesen werden kann nicht Ihr Ziel sein, oder?
Und das kann es doch nicht sein, was Sie sich als Autorin wünschen! Sie haben etwas zu sagen, eine klare Botschaft! Also drücken Sie sich bitte auch klar aus. Vermasseln Sie es nicht, nur weil Sie glauben, Substantive würden Ihrer Eloquenz dienen. Nein, ganz im Gegenteil. Denn wie soll denn jemand je von Ihrer schönen Botschaft erfahren, wenn Sie ihm den Blick auf diese Botschaft mit Satzungetümen und Wortgebirgen verstellen?
Klare, schlichte Sprache hingegen zeugt von wahrem Expertentum, das hat Einstein schon erkannt: „Wenn du etwas nicht einfach erklären kannst“, soll er gesagt haben, „dann hast du es nicht gut genug verstanden.“ Soviel dazu, woran man eine wirkliche Expertin, einen Sich-Auskenner erkennt: an einer schlichten, einfachen Sprache.
Was dahinter steckt: Unser Hirn braucht Effizienz
„Ach, Blödsinn“, sagen Sie nun vielleicht, „wegen ein paar zusätzlicher Hauptwörter wird man mich nicht gleich mit Ignoranz strafen.“ Tja. Vielleicht doch. Der Grund liegt in der Verarbeitung von Text in unserem Gehirn. Unser Gehirn ist nämlich auf Effizienz getrimmt, und dass es egoistisch ist, wissen wir seit dem Buch von Hirnforscher Achim Peters auch. Das Ziel unseres Hirns ist, Informationen möglichst rasch verarbeiten zu können. Deshalb mögen wir Bilder gern, weil sie auf einen Blick schon so viel erzählen können. Wenn ein Text sich sperrt, reagiert das Gehirn ungnädig: Es verliert das Interesse und wendet sich anderen Dingen zu.
Ein Text muss daher entweder schnell zum Punkt kommen. Oder er ist länger, schweift ein wenig aus, bevor er in die Zielgerade einbiegt – aber dann muss er leicht und elegant und bildhaft daherkommen. Und was machen Substantivierungen mit Ihrem Text? Genau das Gegenteil. Nehmen wir ein Beispiel, am besten gleich meine Hauptbotschaft dieses Artikels:
Bitte achten Sie auf die Vermeidung von Substantiven, die zur Erschwernis beim Lesen führen.
Puh! Wie gefällt Ihnen der Satz? Also mir nicht. Ich würde so schreiben:
Bitte vermeiden Sie Substantive, weil sie das Lesen erschweren.
Intuitiv verstehen Sie bestimmt, warum die zweite Variante die bessere ist. Ich liefere die wissenschaftliche Erklärung nach:
1. Der erste Satz ist fast doppelt so lang wie der zweite, 14 Wörter vs. 8 Wörter, obwohl der Inhalt exakt derselbe ist. Das liegt an zwei grammatischen Grundregeln: Hauptwörter brauchen einen Artikel. Und Sätze brauchen Zeitwörter. Wenn Sie nun ein Zeitwort im Satz substantivieren, brauchen Sie ein weiteres Zeitwort (in meinem Beispiel achten und führen) und Artikel, Partikel, Präpositionen etc. (in meinem Beispiel auf, die, von, zur, beim). So passiert es, dass jede Substantivierung automatisch den Satz länger macht.
Merke also: Wenn du etwas kurz schreiben kannst, dann schreibe es kurz. Punkt.
2. Im ersten Satz sind ausgerechnet jene zwei Wörter substantiviert, die Ihnen meine zentrale Botschaft mitteilen: Vermeidung und Erschwernis. Das mag für Sie spitzfindig klingen. De facto haben Sprachforscher aber herausgefunden, dass Zeitwörter (neben bestimmten Hauptwörtern) das Hirn am meisten befeuern, weil sie Bilder erzeugen. Laufen, tanzen, kochen, essen, frieren – und automatisch werden mit solchen Bildern auch Emotionen getriggert, was der Aufmerksamkeit und der Merkfähigkeit beim Lesen zuträglich ist. Hauptwörter können das auch, jedoch nur, wenn sie konkret sind (Tisch, Haus, Computer) und nicht abstrakt (die erzeugen nämlich kein Bild: Scheinselbständigkeit oder Wissen zum Beispiel). Auch bei Zeitwörtern gilt: konkrete erzeugen Bilder, abstrakte wie z. B. befinden, anwenden, beachten haben eine schwächere Wirkung auf unser Hirn, ebenso alle Hilfsverben. Blöd ist, dass Substantivierungen meistens ausgerechnet solche Wörter verlangen.
Merke also: Wenn du ein Zeitwort hast, verunstalte es nicht. Nimm es, wie die Sprache es schuf: als Zeitwort.
Zeitwörter sollten also immer die erste Wahl sein, wenn Sie in den Köpfen Ihrer Leserinnen und Leser etwas bewegen wollen. „Auf Vermeidung achten“ ist nicht annähernd so stark wie „vermeiden Sie“. Wenn das Haus neben Ihnen in Flammen aufgeht, schreien Sie ja auch nicht „Hier ist ein Brand entstanden, bitte achten Sie auf die Erhöhung Ihres Gehtempos.“ Sondern: „Es brennt, rennen Sie!“
(Foto: Daniela Pucher)